Knastpoeten
oderDer Moment, wenn Stifte auf Wände treffen
Beitrag zum Ingeborg-Drewitz-Literaturpreis für Gefangene von Johannes Jötten
Wenn einsame Wölfe heulen, vergiss die Angst vor Ihnen, die Vorurteile über sie, suche dir einen stillen Platz und entdecke die Melodien in ihrem Gesang...
So würde ich mein Buch anfangen, würde ich es jemals schreiben. Wer ich bin? Sagen wir einfach ich befinde mich als Insasse in einer Justizvollzugsanstalt und arbeite dort als Hausarbeiter. Der Hausarbeiter ist das „Mädchen für alles“, der gern auch als Kalfaktor bezeichnet wird. Ich versorge die Häftlinge meiner Abteilung mit Dingen des täglichen Bedarfs, von Seife bis Toilettenpapier, verteile das Essen, reinige Zellen von Entlassenen und erfülle weitere Aufgaben, die den Beamten spontan einfallen. Ich habe so viele Zellen gereinigt, so viele Kritzeleien an den Wänden entdeckt. All-Time-Classics: „Ein Mann ohne Knast ist wie ein Baum ohne Ast“ oder „Ob sie uns lieben oder hassen, irgendwann werden sie uns entlassen.“ Diese hätten mich nicht dazu bewegt, darüber eine Erzählung zu schreiben. Doch ab und zu stieß ich auf regelrechte Perlen der Poesie, voller Gefühle, die keiner hier drinnen sonst ausspricht. Da reifte die Idee eines Buches in mir. Es waren Gedichte, die unsere eigene Mauer überwinden. Also schrieb ich sie auf, bevor ich sie vergesse und schuf ein kleines Büchlein, versteckt unter spärlicher Kleidung, die mein Schrank mir anbot. Aber würde sich im Trubel dort draußen dafür Gehör finden? Die Welt schien entrückt zu sein, die Corona-Pandemie, Mobbing, Klimakatastrophen, Computersucht, digitale Depression durch ständige Selbstdarstellung, Finanzkrisen, FOMO, Flüchtlingsdebatten und Meinungen, Meinungen, Meinungen. Viele kümmern sich nur noch um ihre egoistischen Partikularinteressen. Würde überhaupt jemand glauben, dass ein Häftling „Partikularinteressen“ und nicht nur ständig „TabakKaffeeMenschenwürde“ sagt? Und dürfen wir uns überhaupt dazu äußern, bei dem Rucksack den wir selber tragen, uns durch unsere Schuld selbst aufgesetzt haben? Manchmal wünsche ich mir insgeheim, dass Corona bleibt, denn mit Maske würde mich draußen keiner erkennen.
Heute war „Hackfleisch-Mike“ entlassen worden, der auch „Mike, der Metzger“ genannt wurde. Der Name kam von seiner Weltklasse-Bolognese, die er oft in der Abteilungsküche zauberte, aber andererseits half der Name auch zu einem ehrfürchtigen Standing, besonders bei Neuankömmlingen. Mike war ein Poser vor dem Herrn, einer der immer am Gitterfenster redete, jeden Antrag noch einmal mit den Beamten besprechen wollte und der immer eine Zigarette mehr schnorrte, als er zurückgab. Er musste bis zum Datum seiner Endstrafe bleiben, denn er hatte zu viele „Gelbe“, also Einträge für Fehlverhalten, in seiner Akte. Hätte ich ihm ein Freundschaftsbuch gegeben, hätte er unter Lieblingssprüche sicher „Stumpf ist Trump“ eingetragen. Seine Zelle musste jetzt von Grund auf gereinigt werden und als ich gerade eine saure Milch vom Fenstersims in den Abguss kippte, sah ich ein Schriftstück an der brüchigen Tapete. Ich fügte es direkt meinen Notizen hinzu:
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„Gitterfenster, Knasttelefon,
Gerücht fliegt an, ich kenn es schon,
gesichtslos, Kommunikation,
ein Loch mit Loch ist, wo ich wohn,
durch’s Doppelgitter kommt der Ton,
nur Worte ohne Emotion.“
Theodor Fontane hatte gesagt: „Abschiedsworte müssen kurz sein wie Liebeserklärungen.“ Vielleicht war Mikes Gedicht gegenteilig zu werten, der Frust über die Haft als Liebeserklärung an die Freiheit. Oder sind die sozialen Netzwerke der Außenwelt auch nur gesichtslose, Gerüchte verbreitende Gitterfenster? Ich steckte meinen Tauchsieder in die Kaffeetasse und lenkte meine Gedanken auf den anstehenden Einkauf. „Flursperre“, „Einschluss“ hallte es durch die Gänge, irgendetwas musste passiert sein, vielleicht eine Schlägerei, ein Suizidversuch oder einfach eine Studentengruppe auf Rundgang. Ich begann einen Brief zu schreiben, Kontakte wurden weniger, die Jahre der Haft wurden der Subtrahend meiner Außenbeziehungen, bis nur noch eine einsame Null übrig bleiben würde.
Ein richtiges Unikat war „die Tonne“. 180 Kilogramm Lebendgewicht mit Pranken wie ein sibirischer Braunbär, eine Stimme so tief, als hätte er einen Bassverstärker verschluckt und völlig unpassenden, winzig-kleinen Augen, die seiner Gesamterscheinung den letzten Rest gaben oder das eher denen, die er damit abfällig anblickte. „Die Tonne“ hatte Schuldverschiebung perfektioniert, auf Alles und Jeden, die eigene Schwäche trug er mit einer neuen Legende versehen, wie ein Symbol der Stärke vor sich her. Man kann hier schnell in eine düstere Stimmung abdriften, die Welt verfluchen und man findet einfach Leute, die in die alten Klagelieder einstimmen. Jedenfalls hatte „die Tonne“ einige körperliche Wege gefunden, Smartphones in die Anstalt zu schmuggeln, was ihm erst viel Tabak und nach dem Auffliegen eine Verlegung einbrachte. Ich packte also die Reste aus seiner Zelle ein, als ich folgendes Wandgemälde entdeckte:
„Kein Handy klingelt
Kein Handy vibriert
Von Leere umzingelt
Gedanken verwirrt
Schreie ohne Gesichter
Ständige Lichter
Der Schlüssel erklingt
gespannt, was er bringt
Die Hoffnung zerbricht
wer weiß, was noch bleibt
allein die Zeit
hat hier noch Gewicht!
Ich hatte immer einen Zettel und Stift in meiner Arbeitshose, in der Beintasche mit den kleinen Klettverschlüssen, also schrieb ich es direkt auf.
Und dann gab es da noch Lulu, ein Name, dessen wirkliche Tragweite erst zu erkennen war, wenn man ihn erlebt hatte. Er brauchte keine Zusätze wie „Langmesser-Lulu“ oder „Lulu, der Schlitzer.“ Es reichte zu hören, dass Lulu auf dem Weg war, um auch gestandene Häftlinge an ihre Position zu erinnern. Unter der Hand nannte man ihn auch „Langstrumpf“, denn er machte sich die Welt, so wie ihm sie gefällt. Laut hätte das aber niemals jemand gesagt. Wenn zum Beispiel die Dusche nicht sauber genug war, holte er den Duschreiniger, pinkelte vor seine Augen alle Wände voll und forderte eine schnelle, sofortige Reinigung. Wir nannten es „Lulu’s Hyäneregeln“. Irgendwann wurde Lulu in den offenen Vollzug verlegt und ich entdeckte eine schwarze Umrandung an seiner Wand, ging näher heran und dort stand in kindlicher Schrift:
„An dieser Wand hing das Bild meiner Frau,
zusammen mit den Kindern,
weit weg von den Sonnenstrahlen des Fensters,
damit das Foto nicht verblasst.
Gegenüber lag ich immer auf dem Bett,
völlig alleine mit mir,
ganz nah bei dem Strahlen des Fotos,
damit die Erinnerung nicht verblasst.“
Es muss aber nicht immer eine poetische Meisterleistung sein, einer meiner Lieblingssätze stand riesengroß an eine Gruppentür geschmiert:
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„Geh kacken, Corona!“
Er sorgte für einige Lacher und ließ die rigiden Einschränkungen, wie die Aussetzung des Besuchs, kurz vergessen. Der Besuch ist uns nämlich heilig hier, die einzige Möglichkeit, seine wichtigsten Bezugspersonen zu sehen, zu umarmen, anzulächeln, sie, und dadurch auch sich selbst, zu spüren. Eine kleine Emotions-Oase.
Oft werde ich gefragt, was eigentlich passiert, wenn ich mir zum Beispiel den Fuß breche.
Ich würde in das Justizvollzugskrankenhaus kommen, ja ein Krankenhaus mit Gittern und Mauern. Als ich vor Kurzen eine sehr schlechte Phase hatte, kam meine Knasthypochondrie wieder voll zum Vorschein, meine Kopfschmerzen wertete ich als sicheres Zeichen für eine tödliche Krankheit und das sogar ohne eine Suchmaschine im Internet nutzen zu können. Gefühle vibrieren hier drin wie Schienen unter Zügen. Kurz oben, kurz unten, auf und ab, fast nicht zu sehen, so schnell. Ich saß also im Bus und entdeckte zwischen vielen Namen einen kurzen Text:
„Als ich klein war sagte meine Mutter,
so nah und doch so fern,
als die Süßigkeitenbox zu weit oben für mich lag.
Als ich in den Knast kam sagte mein Kopf,
so nah und doch so fern,
als außerhalb der Mauern die ganze Welt lag.“
Ich las es und schaute durch die kleine, schmale Fensterscheibe, die mich von Blumen, Pferden, Bäumen, Häusern, Geschäften und Menschen trennte, die greifbar nah an mir vorbeirauschten. Die Scheibe wurde zu einem Bildschirm, auf dem sich die Realität spiegelte.
Aber auch der allgemeine Vollzugsdienst bekam meine Schreiblust mit, die wir auch Beamten oder Schließer nannten. Manche belächelten mich, manche unterstützen mich. Einmal fand ich nach einer Zellenkontrolle, in dem hinterlassenen Chaos, einen Zettel. In einer mir unbekannten Handschriftstand darauf geschrieben:
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„Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser,
wir finden Handys, Drogen, Messer,
es ist ein Spiel, wie etwa Schach,
mal sehen, wer dann am Ende lacht,
trotz Gittern hinter Fensterscheiben,
wichtig ist doch, Mensch zu bleiben.“
War es als Lob für mein Schaffen gedacht? Ich denke ja. Denn selbst bei den härtesten Vollzugsbeamten hieß es am Ende: Mensch bleiben. Das Leben hier drin war halt wie ganze Lakritzschnüre auf einmal essen. Man musste es so verbiegen, dass es passt. Das erste Mal in eine Justizvollzugsanstalt zu kommen ist ein Schock. In den ersten Wochen prasselt zusätzlich zum Vollzugsalltag so viel auf einen ein, dass die Gefahr eines Suizids nach einigen Wochen nicht abnimmt, sondern eher den Höhepunkt erreicht. Gut, dass es Angebote wie die Seelsorge gibt. Und manchmal hilft etwas Galgenhumor, wie ein Eintrag aus einer U-Haft-Zelle zeigt:
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„Mahlzeit. Willkommen in der Zelle. Wenn du hier sitzt, die Kacke am Dampfen ist, sich fast keiner mehr meldet, Besuch ausbleibt, du niemanden das Herz ausschütten kannst, dann ist immerhin eins klar. Es wird noch schlimmer, denn gleich gibt’s Suppe.“
Zu guter Letzt habe ich mich natürlich auch an einem kleinen Werk probiert und da dies ja mein Text ist, kann ich es ungeniert am Schluss einfügen. Ich wünsche also viel Spaß:
Goethe hat einmal gesagt,
„Jede Schuld rächt sich auf Erden“
heute ist dann wohl der Tag,
es wird schon irgendwie werden.
Schiller sagte ca. zeitgleich,
glaub es mir mein Freund
„Die schönsten Tage von der Freiheit
im Kerker werden geträumt.“
Den Lessing muss man nennen,
in dieser langen Scheißzeit,
„sich selber zu erkennen,
ist der Mittelpunkt der Weisheit“
„Es nimmt ein gutes Ende,
für den, der warten kann“,
sagt Tolstoj, die Legende,
er war ein schlauer Mann.
Ende, Fazit, Resümee,
Moral von der Geschicht´,
schlaue letzte Worte,
hab ich alles nicht,
früher,heute,morgen, was kommt und was mal war,
ich will die Freiheit heiraten, ich sage sicher ja.“
So könnte ich das alles geschrieben haben, so könnte es geschehen sein. Und neben unserer Haftanstalt singen die Corona-Leugner: „Freiheit“ und „Get up, stand up, stand up for your rights“, tönt es über Mauer und Stacheldraht herüber. Wer ich also bin? Vielleicht bin ich der, der gerade im Haftraum sitzt, der, der in der Freistunde ist, oder die, die gerade einen Brief an „wen-auch-immer“ schreibt. Auch wenn das alles gar nicht an Wänden stand, ist eines sicher: Es steht in unseren Herzen.
Auf dass die Freiheit sie eines Tages wieder endgültig öffnet.