005 Überwinterung
Sonderbare Stimmung. Alles in mir wachsend, alles in mir vergehend. Störungen im Wachstum kommen und gehen. Reifezeit, Erntezeit. Die Stoppeln auf meinen inneren Feldern werden welk, legen sich noch feucht vom letzten Regen zum ewigen Schlaf auf den Boden - und vergehen. Sonderbares Gefühl von Stasis. Es ist alles zum Stillstand gekommen. Keine Maschine fährt über meine Felder. Kein Mensch betritt die Fluren. Die letzten Tiere, klein und kaum sichtbar, unscheinbar, haben sich, verloren in einem Traum von Sonne und lebendigem Sein, aufgelöst, verflüchtigt, verkrochen, unsichtbar gemacht. Nichts rührt sich, keine Bewegung erspürbar, sichtbar. Wind weht über meinen Feldern, erwartungsvolles Stillhalten überkommt mich. Was geschieht - was nicht? Nein, kalt ist es nicht, noch nicht. Aber ein Blick zum Himmel überzeugt mich, es wird bald frieren, Kälteschauer überkommen mich, mein Körper ahnt das Kommende. Die Bodenkrume zerbröselt in feierlicher Agonie. Alles ist bereit und wartet auf den ersten Fall gefrorenen Wassers, das sich tuchartig, wärmend, über geschlagene Wunden, zerfallende Erde legt, Schutz anbietend vor allem Übel. Melancholie breitet sich um mich aus. Ich liege in meinem mit Vorräten gefüllten, heuduftenden, Gemütlichkeit erfahrbar machenden, dunklen fast lichtlosen, höhlenartigen Kaninchenbau. Der eigentliche Hausherr diente einem Fuchs, der bestrafenderweise, den Leichtsinn, die Lebensüberdrüssigkeit, die Gier nach sexueller Befriedigung, das Anlehnungsbedürfnis, die Naivität, die ungehörigen Hirnfehlschaltungen, den Narzissmus, mit der Todesstrafe belegte, für wenige Stunden als Nahrung in einer kargen Zeit. Wohl dir, Rotfuchs, alles ausdrückbar Gute und Schöne sei dir gewünscht. Keine Ahnung, ob es einem Fuchs schmeckt, ob ein stimulierendes Geschmacksempfinden eingewebt ist in seine Physis. Trotzdem wünsche ich dir für deine erfolgreiche Jagd und den errungenen Preis, guten Appetit. Wie ich in diesen Kaninchenbau gelangte? Eines späten Tages, die Dämmerung stand kurz bevor, war ich, befand ich mich in diesem Bau, schmerzlos, illusionslos und nicht willentlich, nur ausgestattet mit dem Nötigsten, hineingeraten. Niemand befragte meinen Wunsch und Willen. Niemand erfasste nachvollziehbar die blutende Seele, dass an das nahende Ende glaubende Gemüt, die Ängste, die Sorgen, die Nöte, aber auch die Glückseligkeit an diesem sicheren Hort angelangt zu sein. Es gibt hier kein Übel, keine Gefahr das Leben zu versäumen und auch keinen Verlust von Menschlichkeit. Das sind Wertvorstellungen, die hier keinen Platz finden.Die Höhle ist gemütlich, warm und mit Leckereien gefüllt. Leben kann man hier nicht, aber sein. Diesen Unterschied zwischen Leben und Sein musste ich erst erlernen. Immer noch sonderbare Stimmung. Suche nach Highlights. Nicht fündig werdend, Müdigkeit spürend als Ersatz nicht greifbarer Aktivität, Verlust des Ichgefühls, Verlust der Sexualität, Verlust des Glaubens, Verlust von Wertschätzungen und Liebesgefühlen, kein Plan, woraus diese Stimmung gemacht ist. Ich bin sonderbar, der Ablauf der Zeit ist sonderbar, auftauchende Menschen sind sonderbar, nicht darstellbare, nicht liebende Menschen, alles wird gut. Aber nichts wird gut. Alles wartet auf Schnee und Frost, alles auf herzblutvernichtendes Eis. Eine Zuordnung der Stimmung, der so sonderbaren Stimmung, ist mir nicht möglich. Im Kaninchenbau ist es still, atemlos still, die Zeit wartet auf eine Zustimmung fördernde, befördernde Entscheidung des den Zeitmesser beobachtenden Menschen. Doch dieser rätselt, eine den Strom der Zeit ankurbelnde Entscheidung muss fallen, doch warum, wozu, welche ist notwendig, dringlich, unabwendbar, lebensentscheidend? Ich fühle mich satt und leer. Das ist nicht negativ besetzt, einfach leer, ohne Anstoss von innen und aussen. Vielleicht eine pausenfüllende Leere? Wohin ich in meiner engen Behausung auch blicke, Wände, undurchdringlich, bedrohlich, über mir das leere Feld, windumtost, schneebereit, erstarrt, im Winterschlaf liegend, doch auch die Saat des nächsten Frühlings bewahrend, hütend, gnädig umschlingend, aufbewahrend für den nächsten Lauf der Evolution, mich ebenfalls bewahrend, hütend, gnädig umfassend, mich konservierend für die Zeit nach der Zeit, für das Leben nach dem Leben, für meine Wiedergeburt, meine Rückkehr in die gesellschaftliche Lebensorgie. Ja sagen, dass schadet nicht, kostet nichts, macht keinen kranken Kopf, lässt mich ich selbst bleiben. Ja, ich werde meine Rückkehr auf das Oberdeck des uralten Dampfers, Dasein genannt, hier, tief im Erdreich ver- und geborgen, erwarten. Schnee fällt und deckt den Eingang meines Baus tröstlich mit Flocken.
006 Entlassung
Er steht am Fenster, Gitterstäbe zerstückeln seine Aussicht auf einige Bäume, die frosterstarrt, blätterlos, totenstarr ihre Äste in den himmelbettblauen, mit kleinen Wölkchen, leicht und flockig, wie mit Puderzucker bestäubt, Morgenhimmel recken. Es ist still. Seine Augen tränen, das Licht ist nach der in Dunkelheit verbrachten, unruhigen Nacht zu grell, um den Anblick mit weit geöffneten Augen zu genießen. Ein schöner, anregender Morgen. Er hat Herzklopfen, stark, beängstigend heftig, unüberhörbar für ihn. Tief atmet er die Morgenluft ein, nachdem er das Fenster geöffnet hat. Der Mief aus Körpergeruch und kalter Asche beginnt, sich verflüchtigend, auflösend, aus seiner Nase zu verschwinden. Die Erinnerung kommt schlagartig ins Bewusstsein, denn heute ist sein letzter Tag in dieser Menschen wegsperrenden, therapierenden Einrichtung. Er hat Jahre hier verbracht, mit anderen Gefangenen hier gelebt, gelitten, gelernt, sich verändernd, unmerklich langsam zunächst, doch dann auch selbst erkennend, deutlich Fortschritte gemacht, sein Delikt, seine Straftat in ihrem ganzen Ausmaß begreifend. Er hat erfahren, durch eigenes Betrachten seines Lebens vor der Tat, dass sein inneres Sein, sein Verhalten, seine Denkweise folgerichtig ihn hat zum Täter werden lassen. Er hat Antworten auf seine Fragen bekommen, zögerlich, peinlich berührt, sich selbst verachtend, nicht wirklich akzeptierend, wie seine Gedanken- und Gefühlswelt ihn in den Abgrund riss. Er stellte sie, immer noch hoffend Absolution zu bekommen, immer noch an das Gute in sich glaubend, immer noch jederzeit bereit kriminelles Handeln in Abrede zu stellen, ja die Schuld an der ganzen Misere auch bei anderen suchend. Die Erkenntnis nur allein verantwortlich zu sein, machte es ihm schwer, den Herausforderungen des Therapiealltags gerecht zu werden. Nicht leicht, oh nein, schwere See, manchmal hoffnungslos überwältigend, seine bescheidenen Kräfte überfordernd, fühlte er nur noch Aufgabegedanken, weglaufen, weit, weit weg. Doch dann, an der Erkenntnis fast zerbrechend, dass Flucht nicht möglich ist, weil es ein Gewissen gibt, sein Gewissen gibt, das jede Flucht vereitelt. Einmal wenigstens im Leben Mann sein, sich stellen, akzeptieren, Fehler bekennen, deliktrelevantes Verhalten ausmachen und schlussendlich bekennen, "Ja , ich habe es getan und ich weiß auch warum". Der Höhepunkt der ersten Phase der Therapie. Wie kann eine Wiederholung vermieden werden? Rückfallprophylaxe. Die zweite Phase der Therapie war für seine Zukunft entscheidend. Die selbst gefertigten Vorsätze von "nie wieder" bekamen wissenschaftlich begründeten Unterbau, erforderten Lernprozesse des Umgangs mit der eigenen Physis und Psyche, bauten eine Barriere vor deliktrelevante Verhaltensmuster, zwangen ihn immer wieder über seine Entwicklung, seine Reifung, nachzudenken und zu akzeptieren, dass seine eigene Steuerung nicht mehr der Norm entsprochen hatte, dass, kurz gesagt, etwas in ihm eine fatale Fehlentwicklung genommen hatte. Er wusste jetzt, was falsch gelaufen war und bekam jetzt die Mittel an die Hand, eine Änderung seines Denkens und Fühlens manifest werden zu lassen. Verhaltensauffälligkeiten in Vergangenheit und Gegenwart erlebten eine Offenlegung, Einsicht erheischend, Änderungen bewirkend, Fehler ausschließend, neue Erkenntnisse und Verhaltensstrukturen erlernend, verging die Zeit der Strafe. Es war eine nutzbringende Zeit, eine Zeit sich selbst kennen zu lernen und Verhaltenseinsichten zu gewinnen. All das lag jetzt hinter ihm. Es gab natürlich noch Restängste, das Leben außerhalb der Einrichtung wieder aufzunehmen. Da gab es Sorgen um Wohnung, Lebensunterhalt, Kontakte zu der ihn umgebenden Gesellschaft. Auch der Verlust der Gemeinschaft in der Anstalt war ein nicht zu unterschätzender Angstfaktor. In der Freiheit zu leben bedeutete auch, sich wieder ein neues Umfeld zu bauen. Auf Menschen zuzugehen würde Kraftaufwand bedeuten, würde vielleicht über die eigenen Kräfte gehen, war aber unumgänglich erforderlich. Die zu erhoffende, wünschenswerte Akzeptanz der Gesellschaft verursachte ebenfalls Kopfschmerzen. Die Sorge, jeder würde Bescheid wissen über sein Vorleben und damit einhergehend Abweisung, Achtung, Verachtung hervorrufen, war nicht von der Hand zu weisen, aber auch nicht belegbar. Er war nicht der Erste, der entlassen würde. Der Blick aus dem Fenster, die Gedankenspiele, das Brüten über die bevorstehende Zukunft und ihre Bewältigung, kamen abrupt zu einem Ende. Es klopfte an der Tür. Ein Kollege hatte sich vorgenommen, zur Verabschiedung noch einmal seine Hand zu schütteln und ein paar Mut machende Worte zu einer herzlichen, endgültigen Beglückwünschung zu vereinen. Danke für die Zeit, Danke für die Hilfen und Bagatellisierung meiner Eigenheiten, denkt er, sagt er. Plötzlich öffnen sich die Türen und er steht auf der Straße. Die Wölkchen haben sich aufgelöst, der Himmel ist kalt und klar. Seine Zukunft hat begonnen.
007 Ich bin das Leben
Ruhe durchströmt mich. Ich bin ruhig und entspannt. Alle Sorgen, Probleme sind weit weg und erreichen mich nicht. Blut strömt durch meine Adern, langsam, entspannt dahinziehend, vollbringt es seinen Kreislauf von stetiger Reinigung und Ballastaufnahme. Nichts gerät in Unordnung, alles hat seinen Platz, seine Aufgabe, sein Ziel. Ich bin losgelöst von meinen Sorgen und atme die klare, reine Luft eines Kurortes in den Bergen. Hoch oben lebe ich hier, den Wolken, dem Himmel nah, fernab alles Irdischen. Hier zwitschern keine Vögel, hier kreisen die Adler, noch höher als mein Standort positioniert und halten Ausschau nach Beute, nach Nahrung für ihre Jungen und sich selbst.
Ich selbst leide keinen Hunger und keinen Durst. Das Stadium der Nahrungsaufnahme liegt lange hinter mir. Ich benötige nichts, ich vermisse nichts, habe keine unbefriedigten Leidenschaften, spüre keinen Schmerz, keine Seelenpein. Mein Körper umschliesst mein Blut, das kreist. Kein Geruch belästigt mich, kein Lärm stört meine Stille, meine Ohren sind nicht länger existent, meine Nase hat sich aufgelöst. Die Augen sind mir geblieben, aber Augen, die nach innen sehen, dorthin wo nur Blut und Kreislauf sind. Seltsamerweise erkenne ich die kreisenden Adler ganz deutlich, ohne menschliche, organische Augen. Welch ein klaustrophobischer Zustand. Nur Innen-leben wird gelebt, die Äusserlichkeiten negiert. Zu welchem Zweck geschehe ich so? Wo ist der Anlass, der zu dieser Verwandlung führte? Wer heisst diesen Zustand gut? Wer ist verantwortlich für meinen Rückzug, meine Auflösung? Welche Magie, von wem angewandt, ist zuständig für meinen Exodus zur Innenwelt? Gibt es ein Zurück, oder vermag sich das Jetzt nicht wieder zum Früher zu wandeln? Mein Blut strömt ruhig dahin. Die Fragen sind töricht. Wer hat sie gestellt? Ja, ich merke schon, es will wieder einmal keiner gewesen sein. Mir doch egal. Sollen die Frager auf die Antworten warten, ich ströme dahin, durch die Jahreszeiten, im ewigen Werden und Vergehen allen Lebens, existierend, weiter strömend durch die Städte und Landschaften der Erde, alles erkennend, alles bewundernd, alles liebend, alles verachtend, saugend an den Eutern der heiligen Kühe dieser Welt, kopulierend mit den Schönheiten des Daseins, wetteifernd mit den Herrschern der Musen, den Nabobs und Königen auf ihren Mammon geschmückten Altären, beinahe verzagend angesichts der Musikgenies, Komponierer und Spieler, andächtig mal, mal lobpreisend die vielen gottgleichen Götter und den vergöttlichten Gott anbetend, gar weinend mit den Verlassenen, jubelnd mit den Zusammengekommenen, Position beziehend gegen Gewalt, Folter, Terror, Willkür und Mord von Ungeborenen, alles das und noch mehr. Der Blutstrom hat drei Zyklen vollzogen, schwebend unwirksam, ungeläutert, der Strafe harrend, mein Ego, Fluken schlagen über der Zirkulation aneinander. Ich bin, darum bin ich. Ich leide, darum bin ich, ich ströme, ich bin der Strom, der lebendige Strom, der an einem Dienstag an dir vorbei und weiter fließt.