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001 Totentanz

Nichts, absolute Stille, ich sehe Schwärze, undurchdringliche, massive Schwärze. Ich bin tot. Aber wieso? Wann bin ich gestorben? Vorhin habe ich doch noch meinen Reinigungsdienst versehen, habe die Bücherausgabe betreut, habe mit etlichen Leuten gesprochen. Dann war Feierabend. Ich bin in meinen Haftraum gegangen. Ein Schläfchen wollte ich tun. Eine eigenartige Müdigkeit, nicht gekannt, hatte mich be-fallen. Also Augen zu und dann? Jetzt bin ich plötzlich tot. Ich versuche meine Finger zu bewegen. Aber da ist nichts. Füße existieren offensichtlich auch nicht mehr. Atme ich? Keine Ahnung. Bewusst klappt es jedenfalls nicht. Wo bin ich? Irgendwo, nirgendwo, beschreibt es wohl treffend. Denken kann ich. Also bin ich auch nicht tot. Vielleicht ist mein Körper abhanden gekommen. Meinen Verstand, meine Fähigkeit Dinge zu denken, Gefühle zu haben (ich habe Panik) kann ich nicht leugnen. Ich beruhige mich. Mein Ich ist nicht tot. Nachdem die panische Angst gewichen ist, beginnen nun Gedankensplitter durch mein Gehirn zu rasen (denke ich eigentlich mit meinem Gehirn, Beweise gibt es nicht). Mein Delikt, meine Haft, meine Situation in der WG, mein Stress mit der Schmerzensgeldforderung und meine Position dazu, meine Frau, die bald beginnende Einzeltherapie, meine Biografie, die ich ausarbeiten muss, auch mein Lustgefühl wegen des morgigen Schnitzelessens (Geburtstag eines Mitgefangenen Die Redaktion), all das prallt wie schwere See gegen meine Seele. Aha, eine Seele gibt es auch noch. Bin ich in der Lage auch den Rest meiner körperlichen Existenz zu finden? Ich muss mir Zeit lassen. In meiner Stille, in meiner Schwärze liegt auch ein tröstlicher Schutz vor dem Leben. Positiv denken. Aber denken allein macht noch kein Leben. Die Schwärze ist zur Zeit vorherrschend. Meine Gedanken werden schwächer. Leere erfüllt mich. Stille, Schwärze, Leere. Lange Zeit, so schätze ich, ein Zeitgefühl scheine ich noch zu besitzen, geschieht, denke ich, nichts. Aber ich fühle was. Glück, glücklich sein, Zufriedenheit.

 

002 Die Farbe ist Grün

ch erwache und öffne meine Augen. Grün, alles ist grün. Nur eine Farbe, grün. Kei-ne Gegenstände, keine Menschen, keine Tiere, keine Räume, kein Inventar, nur grün. Immerhin von schwarz zu grün hat sich mein Gesichtsfeld verändert. Ist das ein gu-tes Zeichen? Ich bestehe nur aus Kopf, denken, fühlen, das ist immer noch alles. Ganz ruhig. Grün ist doch eine positive Farbe, oder nicht? Grün ist Hoffnung. Hoffnung worauf? Worauf kann ich schon hoffen, denke ich. Ich denke, also bin ich. Aber was oder wer bin ich? Stille, unvermutet, unverhofft, füllt sich mein Kopf mit einer laufenden Kreissäge und diese versucht einen Ausgang zu schneiden, dann wieder Stille. Mein Ich, also mein Kopf nimmt auch das gelassen hin. Ich stehe !! mal wieder neben mir und beobachte, was geschieht. Zu sehen ist nichts. Dunkelheit, die Farbe, schillert jetzt grünblau. Der Nebenstehende weisst auf die Unlogik des Geschehens hin. Beruhigend. Meine Unsicherheit birgt etwas Tragikomisches. Unsicher sein ist mir ewig bekannt und führt zu immer sich erneuernden Minderwertigkeitskomplexen. Aber ich funktioniere mich so durch den Tag. Dann reisst das Dunkel plötzlich auf und ich sehe etwas.
Körper, menschliche Körper, menschenähnliche Wesen, patchworkartig mit farbigen Strichen zusammen gehalten, vor einem dunklen Hintergrund, mit viel Fantasie kann ich Gesichter erkennen, fratzenartig erstarrte Gesichtslava, unwirklich, traumhaft verzerrt und doch den Körpern zugehörig. Was will ich mir mit meiner Zeichnung sagen? Was drängt mich, ein weiteres Fremdbild zu zeichnen? Was schmerzt mich an dieser Darstellung? Was lässt mich in Zufriedenheit versinken? Die Farbkomposition stimmt mich heiter. Das Schwarze in meinem Kopf hellt sich auf. Eine trübe Stimmung nach der anderen fliegt davon. AHA tut ein Übriges. Die Figuren beginnen nach einer kleinen Weile zaghaft zu flüstern, dann lauter werdend, von Harmonie, verlorener Harmonie, verlorener Zeit des Lebens, von der beharrlichen Sinnlosigkeit des Lebens, von der im Leben selbst liegenden Sinnhaftigkeit zu schreien. Von vergeblichem Streben nach einem erfüllten, stolz machenden, die Selbstverwirklichung zum Exzess treibenden Leben, von einem weinerlichen, den Mund voll Bedauern über verpasste Chancen habenden Dasein, einzigartigen, nach Verfilmung schreienden Lebensepisoden, unwirklichen, fantastisch aufgeblähten Zeiten, genau davon berichtet die Farbstiftstrichkomposition. Sie macht in mir den Wunsch gross, dabei zu sein, nur noch aus ein paar Farbstrichen bestehend, vor dunklem Hintergrund, mein Gesicht zur Fratze zu verzerren, Leuten ein Kopfschütteln abzuringen, mitleidiges Lächeln auf Gesichter zu zaubern, um dann im Kritzelkratzel zur Auflösung, zur reinen Farbkakophonie zu kommen. Niemand, wirklich nobody, stellt mir dann Fragen zur Person, zur Familie, zum Delikt, zu Hobbys und Neigungen, sexuellen Wünschen und Fantasien. In dieser Umgebung stelle ich mir diese, Beklemmung erzeugenden, Fragen dann auch nicht mehr, nie mehr. Soll ich mich also hinein malen und aus der realen Welt entschwinden? Geht nicht. Das Bild ist restlos mit glücklich der Realität entronnenen Figuren ausgefüllt. Schade. Hätte ich doch etwas Platz für mich gelassen. Aber das habe ich nicht vorhersehen können, meine Lust ein Farbstrichwesen zu werden. Ich muss das Bild noch einmal malen und dann lasse ich Platz, nehme ich mir fest vor. Doch zunächst gibt es eine Menge Zeug zu erledigen. Das ist alles wichtig. Oder doch nicht? Doch, es ist wichtig. Die Bildwesen sehen alle so aus, als habe ihnen kein Problem mehr im Wege gestanden, als seien alle ihre Sorgen und Nöte sackweise von ihnen abgefallen und erledigt. Erst danach konnten sie das Zeichenpapier mit ihren Wesenheiten bevölkern. Der Gang ins Bild muss also noch warten. Ich werde schon mal über mein Aussehen grübeln, wie ich Betrachtern gegenüber treten soll. Natürlich, mein Narzissmus verlangt eine, zumindest herausragende, Bedeutung suggerierende Form, sie muss dem Betrachter sofort klar machen, hier hat sich der Künstler selbst verewigt, das muss spürbar sein.

 

003 Rosenflug

Eine Rose fliegt aus wolkenlosem, grasgrünen, vom Licht durchströmten sonnenblumengelb schimmernden, mit Schmetterlingen bevölkerten Himmel. Meine Seele tankt diesen Anblick und sehnt sich danach, die Rose zu greifen, fest zu halten, an mich zu drücken, ihren betörenden Duft in meine nikotinverseuchte Lunge strömend einzusaugen und gesund zu werden. Gesund? Welche Krankheit stört meine Kreise? Geht es auf Leben und Tod? Unheilbar? Entstellend? Zum Krüppel ma-chend? Eitrig stinkend? Mitmenschen abschreckend? Die Familie fliehen lassend? Jeden Versuch Hilfe zu leisten verweigernd? Was vernichtet schleichend, heimtückisch, jede Hoffnung auf Besserung versagend, meine Wesenheit, meinen Körper, meinen Geist? Die Krankheit nennt sich selbstsicher "Ich bin die Einsamkeit in deinem Dasein". Ich sorge dafür, dass du nie und nimmer Geborgenheit, das Gefühl aufgefangen zu sein, in einem Leben in Liebe spüren wirst. Ich bin dein Alpha und Omega, deine Religion, dein Glaube, deine Hoffnungslosigkeit. Ich bin alles und du bist nichts. Keine Chance gebe ich deinen Versuchen, mich, deine Krankheit, zu besiegen. Ich will diese Rose. Sie scheint meine Rettung darzustellen im Kampf gegen die Seuche. Doch wie fliegt man an diesen Himmel und wie bekommt man diese Rose zu fassen? Welche Bewandnis hat es mit diesen Schmetterlingen? Und plötz-lich, völlig unerwartet höre ich die Stimme, samtweich, heiter, glockenhell, sofort Vertrauen erweckend, mit leichter Ironie im Timbre, faszinierend und betörend zugleich sagen "Werde zum Schmetterling, fliege empor und greife die Rose im Flug. Dann kehre zur Erde zurück und du bist von deiner Krankheit geheilt."
Ich wandere, ich bin ein Wanderer. Ich lausche in die Nacht. Ich bin ein Lauscher. Ich wandere allein durch die Welt von Anbeginn meiner Geburt, bis zum heutigen Tag. Ich bin der Einsame. Mir begegnen Bäume, Tiere und die Dunkelheit. Verdammt, wo sind die Menschen auf meinem Weg?

 

004 Trunkenheit

Am Abend denke ich über mich nach. Denke nach über meine Vergangenheit, über meine Gegenwart, über meine Zukunft. Nebel dringt in meinen Raum, lässt sich durch mein Denken nicht auflösen, verstärkt seine Dichte eher noch. Musik von Mark Knopfler dringt entspannend, mich weit hinaus führend aus meinem Raum, durch mein Denken, in mein Denken hinein. Alles vergessend, alles erinnernd, alles spürend, alles verinnerlichend, alles wissend. Zeiten fliegen an mir vorbei, immer schneller werdend, nehme ich meinen Körper nicht mehr wahr, bin nur noch eine fliessende Form, ohne Umriss. Nebel, ich bin jetzt ein Nebelfetzen, der Raum grei-fend, alles umfassend, alles durchdringend, Geschichte fühlbar, Leben erfahrbar, seelische Not greifbar macht. Welch ein Rausch, welch ein Fühlen, welch ein Ein-dringen in die Lebensmusik, die ein wahrer Künstler für mich schrieb. Warum bleibt die Zeit nicht stehen, lässt mich gefühltes Leben kosten, lässt mich trinken vom Lebenssaft. Welch eine Orgie von Eindrücken und Bildern. Es klingt, es sinfonisiert in mir. Welch ein Orgasmus von gelebtem Leben, von ergriffenen und verpassten Chancen, dringt in meinen nebelschwadenartigen Korpus. Befriedigend, beglückend, zu Tränen gerührt, zum Lachen animiert, ob dieser Fülle von gehabten Ge-danken, von Geschichten, die ich durchlebte, erfunden, gestaltet, immer wieder und wieder. Ein Leben reicht nicht aus, all die vielen Romane, Gedichte, Novellen, Essays, Sagen, Fantasien, augenzwinkernde Satiren, zu beschreiben, die ich dachte, die ich durchlebte mit nur einem einzigen Ziel, die Leere zu füllen, die den Nebel zu ver-schlingen drohte. Ich habe immer nur gedacht, erfunden, formuliert, Instinkte und Triebe reizend, nervenbetäubende, lebensbedrohende Zustände von Anderssein, kreierend. Der Nebel hat das wahre Dasein von mir fern gehalten bis zum Ende, als verdecken, zudecken, mangels Masse, die Härte des Lebens nicht mehr zu vernebeln imstande war. Als die Schleier keinen Schmerz mehr betäuben, keine Leere mehr füllen konnten, drang Realität wie ein Bohrer in meine Welt, schuf Löcher in meinem selbstgewobenen Umhang, der mich schützte. Hätte ich doch nur meinen Umhang noch. Wäre ich doch nicht nur ein winziger Nebelfetzen, der nicht mehr Form hat, als ein Wassertropfen im Ozean. Doch ist eine andere Daseinsform für mich denkbar, formbar, gestaltbar, lebbar? Die Flüchtigkeit meines Nebelschwadens, der ich bin, wird zur Auflösung führen und was bleibt dann? Kann ich eine andere Form anneh-men? Ja, ich muss mich verdichten, kompakter werden. Keine Schutzschleier mehr. Das tut weh. Jeden Tag, jede Stunde, jede Minute, jede Nanosekunde der Zeit, die mir verschrieben ist. Der Vergleich wird beflügelnd sein, zwischen gestern und heu-te. Darüber Worte zu verlieren, wird bereichernd auf meinen Alltag, wird dynamisierend auf meine Person wirken. Dieses Leben, dieser letzte Strang meines Daseinsgeflechtes wird an Spannung unüberbietbar sein. Der Anfang ist gemacht.