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Literatur im Knast: Hinter tausend Stäben keine Welt (Auszüge)

von Ulrike Baureithel (Bilder: Arne Hoben)

Schuld. Tinnitus der Seele lautete das Motto der zwölften Ausschreibung des undotierten Preises, der seit 1988 alle paar Jahre verliehen wird. Am Eingang der festlichen Preisverleihung verteilte Rainer Wick vom Veranstalter Chance e. V. kleine Glassteine, auf denen zu sitzen die Gäste das „dauerhafte Störgefühl der Schuld“ empfinden lassen sollte. Über ihre Gedanken und Gefühle zu schreiben, begrüßte Münsters Bürgermeisterin Maria Winkel, könne für die Gefangenen „zum Rettungsanker“ werden und „zu einer Brücke“ nach draußen.

Die Namensgeberin des Preises, die 1986 verstorbene Berliner Schriftstellerin Ingeborg Drewitz, war eine ungewöhnlich engagierte Frau, die sich für „die Vorgänge in der Welt“ interessierte, die Frankfurter Auschwitz-Prozesse verfolgte, Hausbesetzer unterstützte und Frauenrechte einklagte. Ihr besonderes Augenmerk galt den Gefangenen in ihren Zellen, die sie ermunterte, zu schreiben.

Dass das Schreiben für ihn tatsächlich zum Rettungsanker geworden ist, bestätigte der einstige Intensivstraftäter und ehemalige Preisträger Maximilian Pollux, Schirmherr der diesjährigen Veranstaltung. Dramatisch ausgreifend berichtete er, wie er zufällig am Schwarzen Brett die Ausschreibung gesehen hatte, da saß er gerade drei Monate in Absonderung und hatte insgesamt 19 Haftjahre abzusitzen. „Ich war Mitte 20 und überzeugt, nichts Anderes zu können, als Straftaten zu begehen. An einem einzigen Abend habe ich dann einen Text geschrieben.“ Als der Brief mit der Preismitteilung kam, sei er fast geplatzt vor Stolz. Seine erste Veröffentlichung, das erste Mal, dass ihm etwas gelungen sei, „ein großartiges Gefühl“! 2008 wurde Pollux nach zehn Jahren aus der Haft entlassen, „nicht resozialisiert, sondern schwer traumatisiert“, wie er sagt. Inzwischen lebt er vom Schreiben und von Vorträgen im Knast und an Schulen. „Der Preis war für mich mit das folgenschwerste Ereignis meines Lebens.“

Insgesamt 19 Preisträger und Preisträgerrinnen wurden ausgelobt. Nur sieben konnten persönlich vor Ort sein, denn es ist eher die Ausnahme, dass die JVA den Ausgang erlaubt.

Aus ihrer, vielleicht auch für sie folgenreichen Veröffentlichung haben sich drei der sieben anwesenden Preisträger bereit erklärt zu lesen, darunter Drogenkriminelle, des wegen Betrugs einsitzenden Mario Wolf und auch der Mörder Rero W., "Ich habe Angst" ist der vergleichsweise lange Text von Rero W. überschrieben, der von einem gewalttätigen Vater handelt, von einer mäandernden Berufslaufbahn, einer gescheiterten Ehe, vom Mord an einer Prostituierten, chronologisch und sehr lakonisch.

Mario Wolf tritt selbstbewusst auf. Seine Texte berichten über seine Situation als Jude in einem deutschen Gefängnis. Ihn treiben die Situation in Israel und in Gaza und der Rechtsradikalismus hierzulande um.

Nicht alle gehen so offen mit ihrer Identität um wie Wolf. NixeBix Heumann verbirgt sich hinter einem Pseudonym und einem Tuch, aus Rücksicht auf ihre Familie. Ihr Gedicht "Ich war es" ist hoch verdichtet auf den Kern der Schuld und die Folgen. „Ich war es / Ich bin schuldig. Ewig / Bin ich nur noch es.“ Die Stimme schwankt, ein quälendes Selbstgespräch, obwohl, wie Heumann schreibt, sie sich nicht ganz „heimatlos, verloren und aufgegeben“ fühlt.

Nicht alles, was in dem kleinen Buch nun gesammelt ist, ist große Literatur. Vieles lebt von der Authentizität des Erlebten und Erlittenen, sichtlich befördert vom Thema Schuld. Es geht nicht nur um die eigene Schuld, sondern auch um die Anderer, erlebte Gewalt, die erinnernde Erschütterungen wachruft. Überraschend ist neben der vielfältigen Art der Auseinandersetzung auch die Vielfalt der Formen, die von Erzählungen über Lyrik bis zum selbstvergewissernden Selbstgespräch und dialogischen Brief reichen.

Die Langfassung des Artikels finden Sie auf:

der Freitag - Die überregionale Wochenzeitung aus Berlin -

Literatur im Knast: Hinter tausend Stäben keine Welt



Das Buch

"Schuld – Tinnitus der Seele"

Ingeborg-Drewitz-Literaturpreis für Gefangene

2024

Schirmherrschaft: Maximilian Pollux

Schuld. Tinnitus der Seele Buchcover

"Ich konnte nicht begreifen, dass andere mich noch wie einen Menschen behandelt haben. In mir noch einen Menschen gesehen haben. Weil ich in mir keinen Menschen mehr gefunden habe. … Heute ist meine Schuld … wie ein beständiges ­Hintergrund-geräusch, mal lauter, mal leiser, Tinnitus der Seele. Manchmal sitzt sie immer noch schwer wie ein Elefant auf meiner Brust. Oft trommelt sie von innen gegen meine Brust. Sie macht mir das Atmen schwer." (MORO)

Der Ingeborg-Drewitz-Literaturpreis für Gefangene ist ein wichtiger Beitrag zur deutschen Literatur. Die prämierten Texte, 19 Autoren und Autorrinnen werden mit diesem Band für ihr beeindruckendes Schreiben ausgezeichnet, handeln von der Bürde der eigenen Schuld. Berührend und uns Leser tief aufwühlend, wagen es die Preisträger und Preisträgerinnen sich bis ins Privateste zu öffnen. Der Sinn des deutschen Strafvollzugs stellt sich beim Lesen dieser Texte neu.

Erschienen im:

Rhein-Mosel-Verlag

Broschur
Seiten: 160

ISBN: 978-3-89801-482-3

12,00 Euro



Impressionen von der Preisverleihung: